Instant Karma: Spalovac mrtvol (Juraj Herz, ČSR 1969)


Darum geht’s: Der zum Buddhismus konvertierte Kopfrkringl (Rudolf Hrusínský) hat eine Mission: Er möchte die Prager überreden, von der Erd- zur Feuerbestattung zu wechseln, da sich – so denkt er – nur so Leid beenden lasse und die Seelen wiedergeboren werden könnten. Doch als die Nationalsozialisten seine Heimatstadt besetzen, überredet ihn sein alter Kriegskamerad Reinke (Ilja Prachar) , sich den Besatzern anzuschließen. Bald identifiziert er sich voll und ganz mit der neuen Ideologie und wird dadurch zunehmend zu einer Bedrohung für seine jüdische Frau Lakmé (Vlasta Chramostová) und die gemeinsamen Kinder Zina (Jana Stehnová) und Mili (Milos Vognic).


Achtung: Schwere Spoiler!


A: Es fängt irgendwie recht harmlos an, mit jemandem, der ein bisschen obskure Ideen hat, wo der Wahnsinn aber irgendwie schon eingeschrieben ist.

J: Ja, die Eröffnungsszene im Zoo, mit dem Leopardenkäfig, und plötzlich wirkt es, als wären die Kinder mit im Käfig. Da schwingt in der ersten Szene schon etwas Bedrohliches mit, obwohl nur ein gewöhnlicher Sonntagsausflug gezeigt wird.

A: In dieser Szene guckt die Familie ja auch in einen Spiegel und alle sehen so verzerrt aus. Das ist ein formales Mittel des Films, dass er diese Fischaugenlinse benutzt und sich die Räume so unendlich ausdehnen, dass alles nah wirkt und trotzdem unendlich expandiert. Das ist sehr desorientierend.

J: Kopfrkingls Arbeitsplatz, dieses Beerdigungsinstitut mit Krematorium, wirkt auch total bizarr, wie ein verwunschener oder eher verfluchter Ort.

A: Dieses Tempelhafte ist aber auch etwas, was er selbst in diesen Ort hineinliest, nicht?

J: Sein ganzes Verhältnis zu seiner angeblichen Religion ist letztlich eine Art Hirngespinst. In seiner ersten Rede zeigt sich schon, dass er vom Buddhismus in Wahrheit nichts versteht. Er erzählt, alles wäre Leiden und deshalb müsste man dringend wiedergeboren werden. Das ist natürlich Quatsch. Wenn man wiedergeboren wird, warum sollte man dann weniger leiden als vorher? Das Ziel ist doch eigentlich, den Kreislauf der Wiedergeburten zu durchbrechen. Sein Zugang zum Buddhismus ist auch völlig obskur. Er hat ein Buch über Tibet gelesen und bildet sich danach ein, er sei ein Experte für den Buddhismus. Von Anfang an hat er eine sehr kolonialistische Denkart und meint, die Menschen in Tibet würden ihn bald zum neuen Dalai Lama erklären. Das behauptet er wirklich.

A: Das passt auch total gut zu seiner Spießbürgerlichkeit. Ich meine, so wie er dann mit dem Publikum spricht, als sei er eigentlich ein Experte und ein Geschmacksmacher für alles, was irgendwie mit Kunst, Kultur, Religion oder so zu tun hat. Aber das ist alles überhaupt nicht kohärent.

J: Seine Wohnung sieht deswegen auch extrem bizarr aus.

A: Genau, diese Wohnung wird im Laufe des Films immer mehr verunstaltet. Alles ist völlig eklektisch, Porträts reihen sich an kitschige Erotika. Alles wird bizarr zusammengestückelt. Das ist überhaupt nicht einheitlich im Sinne eines bürgerlichen Stils, auf den man sich einigen könnte.

J: Später hängt er sogar noch tote Fliegen mit an die Wand. Er ist völlig besessen vom Tod.

A: Das treibt ihn auf dem Jahrmarkt dann auch zu diesem Grand-Guignol-Theater, was ja mit seiner Mission, einfach nur tote Körper zu verbrennen, um ihre Seelen zu befreien, nichts zu tun hat. Da geht es eher um das Leiden auf Erden, und das wird sehr lustvoll dargestellt. Er sucht sich ja irgendwie auch diese Lust. Andererseits aber redet er immer so moralisch davon, dass Leiden ganz schlimm ist und dass man Menschen und Tiere davon befreien muss.

J: Aber er will die Menschen und Tiere befreien, indem er sie umbringt, also ihnen selbst das schlimmste Leid zufügt.

A: Ja, das kommt später. Aber schon vorher ist es ja so, dass er da völlig widersprüchlich ist, also dass man das Gefühl hat, er ist eigentlich ein total hemmungsloser Lustmensch, der sich aber nach außen hin extrem feingeistig und sogar abstinent gibt.

J: Er hat so eine sehr kontrollierte Maske aufgesetzt, aber im Inneren dreht er völlig frei. Daraus zieht der Film in der ersten Hälfte durchaus auch Humor, aber dann wird es sehr düster, als Reinke ihn überzeugt, sich den Nationalsozialisten anzuschließen.

A: Das ist aber auch sehr merkwürdig motiviert.Reinke sagt ihm, dass er Zugang zu einem exklusiven Bordell bekommt, wenn er Parteimitglied wird. Und dann radikalisiert er sich wahnsinnig schnell.

J: Ja, er wird ein richtiger Fanatiker.

A: Und das Nationalsozialistische in dieser tschechischen Ausprägung, das wird ja irgendwie auch als extrem stumpf und verblödet dargestellt. So dass es halt völlig mit seinem Blödsinn zusammengeht. Da ist irgendwie auch so eine Offenheit auf Seiten der Nazis, sich diese Sachen anzueignen, soweit es ihnen nützt. Sie sprechen zwar viel von Reinheit, dennoch scheint es für sie kein Problem zu sein, diesen „komischen Freak“ in ihre Mitte zu nehmen.

J: Diese Offenheit besteht auch von seiner Seite her. Als er Reinke trifft, sagt er zunächst, er sei Tscheche, er spreche Tschechisch, er lese alles in Tschechisch, er habe immer dort gelebt. Dennoch ist er sofort bereit, eine neue Identität als Deutscher anzunehmen. Und gleichzeitig sieht er sich angeblich ja auch als Tibeter. Interessant ist dabei, dass er umso fanatischer an einer Identität hängt, umso konstruierter sie ist. Die tschechische Identität hat sich ja noch halbwegs natürlich ergeben – also dass meine ich nicht biologisch, sondern aus dem Lebenslauf. Die deutsche Identität hingegen wird einfach so herbeifantasiert.

A: Er geht immer mit absoluter Selbstsicherheit voran, und betont einfach, dass er tschechisch ist und wie toll alles Tschechische ist. Und alles, was nicht tschechisch ist, wird mit Euphemismen belegt. Also wenn seine Frau Lakmé dann Essen auf eine traditionelle, jüdische Art zubereitet, kann das gar nicht richtig benannt werden, sondern wird von ihm nur als “ausländisch“ bezeichnet. Also schon bevor er auf der Seite der Nazis ist, stößt er diese Identität von sich weg, auch wenn er noch nicht offen antisemitisch ist. Und ja, wie du schon sagst, will er zunächst irgendwie dieser ideale Tscheche sein. Und dann gibt es diese Szene, wo sie am Tisch sitzen und er mitkriegt, wie stark sein Freund in der nationalsozialistischen Partei involviert ist. Und dann sagt sein Freund: „Vielleicht hast du ja auch einen Tropfen deutsches Blut.“ Und das ist dann echt wie so eine Verdünnung, wie eine Infektion fast schon. Dann arbeitet das in ihm und der Tropfen wird immer größer.

J: Und gleichzeitig ist da bis zum  Schluss diese Idee von Tibet. Was er da macht, würde man heute wohl als kulturelle Aneignung beschreiben. Er fantasiert sich ja auch in so ein „tibetisches Gewand“, und man merkt gleich, dass ihm das eigentlich total fremd ist. Er hat nicht den Hauch einer Ahnung davon. Das Gewand sieht aus wie ein Bademantel.

A: Ja, das sieht total absurd aus, wobei er das vielleicht sogar mit Absicht macht, da er aus irgendwelchen Gründen auch völlig besessen von seinem Badezimmer ist.

J: Das stimmt. Zum ersten Mal imaginiert er sich in dieses Gewand, als er Lakmé im Badezimmer ermordet

A: Und von hinten dampft es so raus aus dem Badezimmer, weil er ein heißes Bad eingelassen hat. Da ist dann dieser Nebel im Hintergrund. Das ist auf jeden Fall einer dieser ersten längeren Monologe, wo er völlig ins Fantasiereich abdriftet.

J: Und dann trifft er immer wieder diese andere Frau, die wirkt wie so eine Art Todesengel, eine Personifizierung des Totenkultes.

A: Oder was ich halt irgendwie auch dachte – das wird nicht so richtig auserzählt oder nahegelegt -, aber ich dachte, dass es nicht so abwegig ist, dass er möglicherweise selbst auch jüdische Vorfahren hat. Vielleicht ist die Frau eine Repräsentation davon, die ihn in Visionen verfolgt.

J: Das kann sein. Allerdings sieht er die Frau auch schon, bevor er sich den Nazis anschließt. Er sieht sie zum ersten Mal auf dieser Feier, wo er die Prager überzeugen will,  keine Erdbestattungen mehr zu machen, sondern nur noch Feuerbestattungen.

A: Ja, diese Frau ist echt eines der mysteriösesten Elemente in dem Film. Wen ich auch spannend finde, sind der Mann und seine ängstliche Frau, die ihm immer wieder über den Weg laufen. Die Frau sagt ja eigentlich immer die Wahrheit, aber keiner nimmt sie ernst.

J: Sie ist so eine Cassandra-Figur. Beim Boxkampf zum Beispiel sagt sie: „Oh nein, er wird gleich den Schiedsrichter schlagen.“ Und alle sagen: „So ein Schwachsinn. Setz dich hin.“ Aber dann passiert es wirklich. Sie sieht immer das Unglück kommen, das kein anderer sehen will, und wird deshalb als hysterisch oder panisch bezeichnet. Und am Ende, wo er endgültig ganz in dieser nationalsozialistischen Identität aufgeht, flieht sie und ist nicht mehr auffindbar. Man trifft nur noch ihren Mann, der vergeblich nach ihr sucht.

A: Sie ist jemand, der diese ganzen Brutalitäten, mit denen sich der Kopfrkingl umgibt, als solche benennt und ausspricht. Er versucht ja immer alles zu ästhetisieren. Gewalt, Mord – alles schön.

J: Das zeigt, dass er überhaupt nicht zur Empathie fähig ist, obwohl er so viel davon redet, dass das Leiden beendet werden muss. Er wird ja einmal von seinem Freund in eine jüdische Gemeinde geschickt, mit irgendeinem bizarren Spionageauftrag. Prag ist da bereits von den Deutschen besetzt, die Menschen sind völlig verzweifelt, aber er realisiert das gar nicht. Er redet bloß davon, wie schön der Gesang ist.

A: Und das Verstörende dabei ist, dass man trotzdem den ganzen Film hindurch immer sehr nah bei ihm ist, also auch durch die Kameraführung, die Bildgestaltung und die verrückten Übergänge, wo sich Szenen immer so überlappen: In der einen Szene erzählt er noch irgendetwas, aber das Bild gehört schon zu einem ganz anderen Kontext. Dabei sympathisiert der Film natürlich überhaupt kein bisschen mit ihm, aber trotzdem wird man mitgerissen wie in einer Geisterbahn.

J: Man sieht, dass einige Charaktere, vor allem seine Frau, total Angst vor ihm haben. Aber auch das ist nur aus seiner Sicht dargestellt. Es gibt keine Außensicht.

A: Interessant ist noch zu überlegen, was der Film über totalitäre Systeme aussagt. Obwohl der Film sich gegen die Nazi-Herrschaft richtet, wurde er vom kommunistischen Staat ziemlich schnell verboten. Betrachtet man nur die Handlungsebene, so fragt man sich: Warum eigentlich? Der Film hat doch eine antifaschistische Botschaft, die müsste doch in einem kommunistischen Staat willkommen sein. Wahrscheinlich wurde der Film auch damals schon als eine Parabel auf totalitäre Systeme an sich gelesen. Der Film richtet sich ja auch stark gegen das Mitläufer- und Denunziantentum.

J: Ja, dadurch wird natürlich auch schon die tschechische Gesellschaft der damaligen Zeit hart kritisiert. Obwohl der Kopfrkingl ja schon mehr ist als ein Mitläufer. Am Ende bekommt er scheinbar eine recht hohe Position, obwohl nicht klar ist, was wirklich passiert und was nur seine Fantasie ist. Ein typischer Denunziant ist er aber auf jeden Fall.

A: Dabei folgt man seinen Rechtfertigungsmechanismen und man sieht die ganze Zeit über, wie es in ihm arbeitet und man kann quasi verfolgen, wie er immer wieder seine Haltung verändert und seine Lebensphilosophie unendlich dehnbar anpasst, bis er irgendwann Nationalsozialist ist. Daran erkennt man dann vielleicht, was für eine Sorte Mensch es braucht, um ein totalitären System aufzurichten.

J: Aber was sich halt gar nicht im Laufe des Films ändert, ist sein Charakter. Seine Identität, seine Meinungen, die ändern sich. Aber all die Charaktereigenschaften, die das begünstigen, sind von Anfang an da. Das zeigt, wie totalitäre Systeme sich Charaktereigenschaften zunutze machen, die schon da sind, aber in anderen Systemen auf weniger schädliche Bahnen gelenkt werden können.  

A: Ja, der Typ wirkt halt völlig leer. Er hat keinerlei Empathie, aber auch sonst ist da kein authentischer, genuin menschlicher Funke drin. Das ist im Grunde fast schon so etwas Tierisches oder eher noch wie eine KI, die sich nur den Anschein des Menschlichen gibt oder sich dieses Kostüm irgendwie anzieht und je nach Bedarf die Kleider wechseln kann.

J: Er ist innerlich leer, aber auch die ihn umgebende Außenwelt ist leer. Er hat keine Beziehung zu irgendjemanden. Er sagt zwar immer: „19 Jahre einer glücklichen Ehe“, aber das zeigt sich nirgendwo. Man muss ihn und Lakmé nur zwei Minuten zusammen auf dem Bildschirm sehen, um zu verstehen, dass da gar keine Beziehung besteht. Und mit seinem Sohn und seiner Tochter ist es genauso. Er ist einzig davon besessen, sich selbst und seinem Sohn ständig die Haare zu kämmen.

A: Ja, das ist mir auch aufgefallen. Fast jedem, dem er begegnet, kämmt er aus irgendeinem Grund die Haare. Mit so einem kurzen Kamm, den er auch immer mit sich führt. Das ist schon vor dem ersten Mord eine sehr übergriffige Figur.

J: Vermutlich kann er, weil er zu echten Beziehungen unfähig ist, überhaupt nur durch solche Übergriffigkeiten mit anderen in Kontakt kommen.

A: Im Grunde ist er schon eher so ein armer Schlucker, der sich gerade so über Wasser hält. Aber trotzdem sind da ja genug Leute bereit, dem auf dem Leim zu gehen, also größtenteils Leute, denen es noch schlechter geht und die sich von seiner Großmäuligkeit blenden lassen.

J: Dabei hat er überhaupt keinen Filter und keine Fähigkeit, in der Kommunikation zu differenzieren. Er redet mit der Sexarbeiterin, die er immer besucht, genauso wie mit seiner Frau, mit seinem Agenten oder mit seinen Angestellten. Er redet einfach mit allen gleich. 

A: Vielleicht ist das auch ein Film über diese Idee von Narzissmus, die heute im im Zusammenhang mit gewissen Persönlichkeitstypen benutzt wird. Aber ich finde oftmals nicht, dass diese Idee alles erfasst oder greift, was da zugange ist. Auch einfach, weil es immer von außen gesehen wird, es wird dann psychologisiert und betont, dass diese Menschen keine Beziehungen eingehen können, nur an sich denken und so weiter. Aber das ist halt schon etwas wenig, woran man sich festhalten kann. Dieser Film erlaubt vielleicht einen tieferen Einblick.

J: Ja, gerade weil wir gezwungen sind, das komplett aus seiner Perspektive mitzuerleben.

A: Und man merkt dabei, dass dieser Narzissmus hier darauf basiert, dass sich diese Persönlichkeit an nichts festmachen kann, außer an der Überzeugung, immer recht zu haben. Außer dieser gnadenlosen, wahnhaften Selbstüberzeugung ist da einfach nichts, woran sich dieser Mensch festhalten kann. Er würde völlig entgleiten und verschwinden, wenn er das nicht hätte. Das spürt man stark in diesem Film, aber das fehlt, finde ich, bei den Außendarstellungen von Narzissten.

J: Stimmt, das wird oft nicht bedacht, sondern diese Selbstüberschätzung wird wie eine Charaktereigenschaft betrachtet, die einfach da ist.

A: Dabei geht es eigentlich mehr um so eine Eigenschaftslosigkeit, die aufgefüllt wird mit allem möglichen Bullshit, um so einen riesigen Berg aus Bullshit zu bauen, auf dem man stehen kann. Und totalitäre Ideologien bieten sich dann eben auch dafür an, diese Leere zu füllen.

J: Durch diesen Narzismuss knüpft der Film auch an andere Filme über Familienauslöschungen an, beispielsweise an Natural Enemies (Kanew, USA 1979). Hier hat man natürlich einen viel größeren politischen Kontext. Aber bei Natural Enemies folgt man auch diesen wirren Gedankengängen, in die sich der Vater reinfindet und in denen er sich gewissermaßen ein anderes Zuhause baut. Und auch dort kommt man dem Täter verstörend nah.

A: Also man hat das Gefühl, man kann irgendwie nachvollziehen, wie sich jemand so weit in so eine Idee oder in eine neue Haltung reinsteigert, dass er dann zu so etwas fähig wird.

J: Ja, genau. Das hat man hier auch, dass man mitbekommt, in welchen Wahn, in welchen Ideen sich die Figur so reinbegibt.

A: Und auch dieses Gefühl, dass da diese Ausweglosigkeit ist, dass da nichts anderes mehr ist. Das hat man in Natural Enemies auch, obwohl man Flashbacks in frühere Zeiten hat, wo die Figur noch mit ihrem Familienleben ringt, aber in der erzählerischen Gegenwart ist da einfach nichts mehr. Selbst aus so einer Begegnung, wie sie der Vater von Natural Enemies im Zug hat, wo er sich mit einer Leidensgenossin austauschen kann, wird nichts mehr gewonnen, weil einfach nichts mehr zu gewinnen ist. Man ist so abgestorben und so leer, dass da kein Funke mehr überspringen kann. Jede Möglichkeit, noch eine Restmenschlichkeit zurückzuerobern, ist völlig gestrandet.

J: Bei beiden Filmen fragt man sich, an welchem Punkt die Protagonisten noch hätten aussteigen können, an welchem Punkt sie das noch hätten aufhalten können. Aber irgendwie findet man da nichts. Auch die Begegnung mit dem Reinke ist hier ja nicht wirklich ein Auslöser oder ein Wendepunkt, sondern eher so der letzte Funken. Schon vorher war die Figur tief in ihren gedanklichen Konstruktionen und Wahnideen verfangen.

A: Ja, über den Reinke kommt auch der Erste Weltkrieg mit in die Erzählung hinein. Man könnte sich auch fragen, in wie weit durch diesen Krieg möglicherweise so ein Typus geschaffen wurde.

J: Das scheint für den Kopfrkringl ja auch eine Grundlage seiner Rechtfertigungsstrategien zu sein: „Ich habe so viel Leid erlebt. Ich weiß, was Leid ist.“ Und dennoch ist es ein verdrängtes Leid, da es immer nur auf das Pferd projiziert wird, das ihn offenbar an der Front begleitet hat.

A: Und es ist auch nur eine Quantifizierung. Es geht nicht um die Qualität des Leids und wie tief das empfunden wird, sondern es ist einfach nur Leid als eine Anhäufung, an der man sich fast statistisch festhalten kann. Und das ist bei Natural Enemies auch so, da gibt es immer wieder diese Aufzählung: „Und dann war meine Frau noch depressiv. Und wir hatten keinen Sex. Und die Kinder gingen aus dem Haus.“ Er zählt ja im Grunde den ganzen Film lang nur all diese Stiche auf, die ihm das Leben zugesetzt hat, aber er fühlt die gar nicht richtig oder benennt gar nicht genau, was daran wehtut, sondern er baut sich das einfach so als Turm vor sich auf und entscheidet dann: “Der Turm ist zu groß. Ich muss jetzt meine Familie töten. Und mich selbst”.

J: Einerseits treibt das Gefühl von Leid ihn an, aber gleichzeitig ist es total abgespalten von dem Rest der Persönlichkeit. Er redet immer total viel über Leid und wie schlimm Leid ist, aber man hat nie das Gefühl, dass er wirklich mal Leid empfindet. Er hat nie eine Mimik, die Leid oder Schmerz ausdrückt. Es ist für ihn mehr ein abstraktes Konzept, aber trotzdem ein Handlungsgrund. Das wirkt fast schon dissoziativ.

A: Ja, die einzige Art, wie er noch etwas fühlt, ist halt in dieser pathetischen, wahnhaften, Tendenz, sich emotional in die Spiritualität und die Kunst hineinzusteigern, ohne aber etwas davon zu verstehen.

J: Genau, und deshalb erzeugt all sein Reden über das Leiden überhaupt keine innere Resonanz. Er sagt: “Mein Pferd musste so leiden”. Aber es ist kein wirkliches Mitleid mit dem Tier, und mit anderen Menschen erst recht nicht.

A: Das ist völlig ruhelos, aber auch völlig unreflektiert. Es ist einfach nur alles totgestellt, bis auf alles, was von außen kommt, womit er sich affizieren lässt. Das kann ein Massengenozid sein oder das kann Johann Strauss sein oder sonst irgendwas. Oder ein kitschiges Aktporträt.

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