
Darum geht’s: Es beginnt mit einer Beerdigung. Annie (Toni Collette), eine Miniatur-Künstlerin, hat sich vor Jahren von ihrer Mutter entfremdet. Nach deren Tod kämpft sie mit ihrer Unfähigkeit zu trauern, während sich die Enkelin Charlie (Milly Shapiro), die mit der Großmutter in einer engen Beziehung stand, zunehmend seltsam verhält. Nach einem tragischen Unfall eskaliert die Beziehung zwischen Annie und ihrem Sohn Peter (Alex Wolff). In ihrer Verzweiflung nimmt sie Kontakt zu einem okkulten Medium auf.
Achtung: Leichte bis mittelschwere Spoiler!
A: Ein guter Einstieg für das Blog – ein Familienfilm.
J: Nicht unbedingt nach der Definition, dass du es mit der ganzen Familie gucken kannst.
A: Stimmt, da hast du Recht. Wenn ich das sage, meine ich eigentlich: Filme, die sich mit Familie beschäftigen.
J: In dem Sinne ist es natürlich einer.
A: Ich fand die Sache mit den Miniaturen sehr interessant, weil die ‘echten’ Räume so prägnant gestaltet sind, dass sie sich leicht umsetzen lassen. Es sind sehr klare Linien und alles ist plastisch, auch aufgeräumt, und fast schon zu designhaft angeordnet. Das hat mich an Wes Anderson erinnert, weil der auch immer solche lebenden Miniaturen macht. In Moonrise Kingdom (USA, 2012) ist das sehr stark. Da guckt man am Anfang in so eine Art Puppenstube hinein und dann ist das das Zuhause der Protagonistin. Bei Anderson geht es auch oft um Familienneurosen, aber seine Räume sind immer voller Vintage-Gerümpel.
J: Das Haus in Hereditary ist auf jeden Fall sehr leer. Das scheint mir in Horrorfilmen eher ungewöhnlich. Oft sind Horrorhäuser ja vollgestopft mit alten Dingen. Auch die Sachen der verstorbenen Oma sind abgelegt in zwei, drei Kartons. Ansonsten sind da sehr pragmatisch eingerichtete Zimmer. Erst recht das Baumhaus ist leer, obwohl erst die Tochter und dann die Mutter dort schlafen. Das gehört vielleicht zur Setzkastenlogik.
A: Ja, stimmt. Das Baumhaus. Das ist interessant, weil es total leer ist. Da kannst du etwas reinsetzen und das ist dann losgelöst von dem umliegenden Raum. In einem Puppenhaus ist alles aufeinander abgestimmt. Kleine Details, die alle zum großen Ganzen beitragen. Aber das Baumhaus ist völlig nackt, tatsächlich wie in einem Setzkasten. Dort offenbart sich vielleicht etwas, weil die ganzen Symbole des Domestizierten weggefegt sind.
J: Vor allem offenbart sich da eine Leere in der Beziehung zur Tochter. Man denkt zuerst, sie geht ins Baumhaus zum Schlafen, weil sie sich dort der Tochter nah fühlt. Aber da ist überhaupt nichts, was an die Tochter erinnert.
A: Da ist aber auch nichts, was die Familie ausdrückt.
J: Das macht die Familie aus. Die Beziehungen sind leer. Auch die Ehe. Ich frage mich schon, warum der Vater überhaupt da ist. Annie könnte genauso gut alleinerziehend sein. Es gibt kein Gefühl einer echten Beziehung zwischen den beiden Figuren. Gegenüber den Kindern hat die Mutter von Anfang an eine starke Grundaggressivität. Aber gegenüber dem Mann gibt es gar keine Beziehung. Sie scheinen sich weder zu lieben noch zu hassen.
A: Sie scheinen nur noch in der Funktionalität aufzugehen. Trotzdem fand ich es bemerkenswert, mit welcher Geduld er das alles beobachtet und nicht einschreitet. Das geht sehr dem entgegen, wie man es aus Paranoia-Horrorfilmen kennt, wo Leute sofort für verrückt erklärt werden, vor allem Frauen von ihren Männern gerne sofort weggeschlossen oder ans Bett gefesselt werden. Hier ist der Mann völlig passiv, beobachtet nur, bis über den Punkt hinaus, wo es schon zu spät ist.
J: Ja, aber das ist etwas, was sich aus reiner Gleichgültigkeit speist. Auch gegenüber dem Sohn und der Tochter. Das scheint mir keine Art von Verständnis zu sein, nach dem Motto: ‘Nicht vorschnell als Wahnsinn verurteilen’.
A: Auf jeden Fall wirkt er hilflos. Nicht wirklich in der Lage, etwas zu tun. Aber ich hatte schon das Gefühl, dass er zumindest den Sohn schützen wollte.
J: Den Sohn vielleicht. Aber gegenüber der Tochter und der Frau gibt es kaum eine tröstende oder mitfühlende Geste. Es gibt eine extreme Kälte in der Familie, die auch er ausstrahlt. Natürlich nicht nur er.
A: Das war für mich schon eine Kälte, die sehr milieubezogen ist. So eine Grundkälte, die in einer gewissen Schicht zu erwarten ist.
J: Auffällig ist jedenfalls, dass keine Figur etwas mit der Tochter als Tochter anzufangen weiß. Die Großmutter wünscht, dass sie ein Junge ist. Der Vater und Bruder halten Abstand, weil sie sehr verhaltensauffällig ist. Keiner versucht ihr zu helfen.
A: Das hat für mich Sinn gemacht, weil ich immer im Hinterkopf hatte, wie es wäre, wenn man es mit ‚normalen’ Familienproblemen zu tun hätte. Was wäre zum Beispiel, wenn die Tochter von der Großmutter missbraucht und manipuliert worden wäre.
J: Das wird ja auch in dieser Selbsthilfegruppen-Szene angedeutet.
A: Die meisten Familien können mit so etwas doch weniger umgehen als mit einem satanistischen Kult. Die Beziehung zur Großmutter wird von Annie völlig verdrängt.
J: Ja, die Großmutter ist so eine abwesende Präsenz in diesem Film. Man weiß eigentlich nichts über sie, aber alle Probleme laufen auf sie zu.
A: Ich musste auch ein bisschen über die Generationenproblematik nachdenken. Traumata werden in die nachfolgende Generation übertragen, über Erziehung oder sogar epigenetisch. Als so eine Art von Vermächtnis oder Erbschaft, die man mit sich herumträgt. Vielleicht steht das ganze okkulte Konstrukt auch dafür, für so ein nicht aufgearbeitetes Trauma, das sich der Familie im Jetzt-Zustand bemächtigt.
J: Und die Frau in der Mitte kann nichts tun, obwohl sie in der Familiendynamik die treibende Rolle einnimmt.
A: Man hat schon das Gefühl, dass sie die Dominierende in der Ehe ist. Sehr anders als in Vorbildern wie Rosemary’s Baby (Polanski, USA 1968), wo eine Frau von einer okkulten Sekte heimgesucht und dann manipuliert und ausgenutzt wird. Aber Annie ist eher eine starke Figur, die trotzdem überwältigt wird. Sie wird nicht von Anfang an als leicht korrumpierbar dargestellt. Das Klischee in solchen Filmen ist ja das der schwachen Frau, die von finsteren Mächten umsponnen wird.
J: Hier ist der Sohn in dieser Position. Die Tochter verschwindet relativ schnell aus dem Film.
A: Aber ihre Aura ist noch da. Genau wie die Aura der Großmutter, die über dem gesamten Film hängt, wie ein Schatten, der die Arme langsam ausbreitet.
J: Die Tochter wird dann zu einer Art Wiedergängerin der Oma.
A: In ihr soll das Dämonische ja schon manifest sein.
J: Allerdings kann die Tochter den männlichen Dämon nicht richtig manifestieren, weshalb der Bruder an ihre Stelle gezwungen werden muss. Letztlich opfern sich drei Frauen – oder werden geopfert –, um die Auferstehung eines maskulinen Dämons zu ermöglichen. Das passt wiederum nicht zu der eigentlich starken Frauenfigur.
A: Die Mutter ist aber auch eine Figur, die an der Stärke völlig zugrunde geht. Der letzte Versuch, alles mit Gewalt zu retten, misslingt total. Wortwörtlich verliert sie darüber ihren Kopf.
J: Da ist sie nicht die einzige.
A: Mit spektakulären Enthauptungsszenen spart der Film wirklich nicht. Er findet ohnehin ein paar schön verstörende Bilder, die teilweise Sachen kombinieren, die es vorher schon gab. Es gibt am Ende zum Beispiel eine Szene, die sehr stark an Audition (Miike, J 1999) angelehnt ist und du hast immer diese Schulszenen mit dem Jungen, die A Nightmare on Elmstreet (Craven, USA 1984) zitieren, wo eine Alltagssituation plötzlich in einen Alptraum umkippt. Aber die Sachen werden clever transponiert, ohne dass es sich nur wie ein Mixtape anfühlt.
J: Der Film fühlt sich aber auch nicht so gruselig an, wie ich es erwartet hatte.
A: Echt nicht?
J: Am Ende löst sich doch alles relativ klar auf. Ich finde Filme vor allem gruselig, wenn so ein geheimnisvolles, unerklärliches Element bewahrt bleibt, wie zum Beispiel bei Das Haus an der Friedhofmauer (Fulci, I 1981), wo diese unheimlichen zwei Wesen sind, die eigentlich nichts mit der Geschichte zu tun haben. Klar, die Idee, dass es Dämonen gibt, die man beschwören kann, ist vielleicht an sich unheimlich, aber es fügt sich am Ende doch in eine in sich geschlossene Welterklärung.
A: Wobei ich das Gefühl hatte, dass die eigentlichen Geheimnisse, die in der Familie sind, gar nicht unbedingt benannt werden. Ich denke, dass dort Dinge begraben liegen, die man nicht aussprechen kann und ich frage mich, ob nicht der ganze Film mehr oder weniger der Versuch ist, diese Dinge zu verbalisieren, in einer Art Performance.
J: Ja, das kann ich nachvollziehen.
A: Vor allem, als nachher die Leute wie Puppen durch die Luft getragen werden, war das für mich total kongruent mit der ersten Sequenz, wo in das Interieur des Puppenhauses gezoomt wird. Und dieses Puppenzimmer ist dann Peters Raum, mit einem schlafenden Peter im Bett. Die Endszene erscheint mir immer noch wie das, was Annie in ihre Arbeit macht, nämlich schreckliche Erlebnisse verkleinert nachzustellen. So gesehen könnte man vielleicht den gesamten Film als Miniatur betrachten. Wie bei Die Puppe (D 1919), wo Ernst Lubitsch als Puppenhausarchitekt vor der eigentlichen Handlung die Verhältnisse klärt.
J: Die Puppe hat ja auch starke Anlehnungen an Der Sandmann (1816) von E.T.A. Hoffmann.
A: Eines der Hauptbeispiele in Siegmund Freuds Aufsatz über das Unheimliche. Der Film hat das, was ich ‚unheimlich‘ nennen würde, perfekt abgebildet. Das Heim, die Familie, wird sich selbst fremd. Anders als in vielen jüngeren Familien-Horrorfilmen wie Insidious (Wan, USA 2010) und The Conjuring (Wan, USA 2013) – diese ganzen ‚das Haus ist besessen‘-, ‚die Familie ist besessen‘-, ‚der Hund ist besessen‘-Filme – hat man in Hereditary schon das Gefühl, dass da wirklich was in der Vergangenheit lauert. Da ist eine familiäre Bindung, aber die ist gestört und belastet. In dieser Hinsicht war ich schon unheimlich berührt. Aber vielleicht nicht in der Art gegruselt, dass man das Gefühl hat, da ist irgendwo ein übernatürliches Element, das von außen kommt.
J: Genau, es ist kein Element da, das von außen kommt und das nicht in der Erzählung aufgeht. Die Elemente, die an den klassischen Geisterfilm anlehnen, wie das ominöse Klicken und die Schemen in der Ecke, gehen alle in der Erzählung auf, sind alle eingespannt in den Kreis der Familie und des Kultes. Es trägt ja auch zur Beklemmung bei, dass alles im engen Kreis des Hauses und der Familie spielt. Es gibt nichts, was sich nicht dort einfügt. Ich meine gar nicht einen Geist, der aus der Ecke springt und ‚Buh‘ schreit oder so. Für mich sind einfach Elemente am gruseligsten, die sich in kein gängiges Erklär- oder Erzählmuster einordnen lassen. Ich meine, wenn man erstmal eine Narrative hat, eine Dämonenbeschwörung, dann hat man auch mögliche Abwehrmechanismen. Gegen einen Dämon kann man sich wehren, gegen etwas, was einfach völlig unerklärlich und – wie soll man das ausdrücken –gegen alles läuft, was man erzählen oder erfahren kann, wie soll man sich da wehren. Das ist mir bedrohlicher als ein Dämon.
A: Aber vielleicht nur, wenn man nicht selbst Teil der Familie ist. Das Unheimliche kann vielleicht nur in dem Maße gruselig werden, wie man sich selbst damit identifizieren kann.
J: Genau, aber es gibt eben auch dieses andere Grauen, das jenseits der Kategorien des Menschlichen ist.
A: Das ‚kosmische Grauen‘ bei H.P. Lovecraft zum Beispiel. Da gibt es ja auch oft Geschichten, wo sich finstere Mächte menschlicher Körper bemächtigen, wie The Thing on the Doorstep (1937) oder The Case of Charles Dexter Ward (1941). Die Natur oder die engeren Zusammenhänge dieser Kräfte sind aber niemals völlig erfassbar, weder wissenschaftlich noch religiös. Auch dort gibt es Charaktere, die versuchen, das Grauen durch Mythologie einzufangen, aber letztendlich verfallen sie immer dem Wahnsinn.
J: Bei Hereditary hingegen hat der Dämon seinen festen Platz in der christlichen Mythologie. Er ist der achte König der Hölle.
A: Hier geht das Grauen im Familiären auf. Aus den kaputten Resten der alten Gemeinschaft entsteht in der Leere des Baumhauses eine neue.
J: Es ist treffend, dass die neue, sich auf das Böse gründende Gemeinschaft ausgerechnet hier entsteht. Sehr platonisch, die Idee, dass das Böse aus einem Mangel, ja sogar aus der Leere heraus erwächst.