Geschlossene Gesellschaft: The Grim Reaper (Ron Ormond, USA 1976)


Darum geht’s: Wir erleben die Beerdigung des jungen Amateuer-Rennfahrers Frankie Pierce (Eddie King). Doch statt Trost hören die Eltern Vern (Cecil Scaiffe) und Ruby (Viola Walden) vom Prediger ihres Vertrauens (Greg Pirkle), dass ihr Sohn in die Hölle verbannt wurde, weil er Jesus nicht als seinen persönlichen Retter anerkannt hat. Gegen den Willen des bibeltreuen jüngeren Bruders (Tim Ormond) suchen sie nach einem Ausweg aus Frankies ewiger Verdammung.


Achtung: Schwere Spoiler!


J: „The Grim Reaper.“ Das klingt schon total nach einem 70er Jahre Horror-Exploitation-Film.

A: Ja, das war das erste, worüber ich gestern nachgedacht hatte. Auf dieser neuen Blu-ray-Box von Nicolas Winding Refn und Jimmy McDonough sind unter anderem zwei Radiospots zu The Grim Reaper drauf, die auf einer Schallplatte für Radiostationen herumgereicht wurden, wahrscheinlich in Texas und Umgebung. Und diese Spots… das ist wirklich eins zu eins so, wie Exploitation-Filme beworben wurden, mit den gleichen Sound-Effekten und so einem Slogan im Hintergrund, wie wir das von The Last House on the Left (Craven, USA 1972) kennen: „It’s only a movie, it’s only a movie“.

J: In dieser Hölle sieht es ja auch fast eins zu eins so aus wie in einem Exploitation-Film, was die Effekte und Kostüme angeht.

A: Genau, aber ich frage mich, ob es dabei jenseits von finanziellen Interessen, die vielleicht darin bestehen, dass Gemeinden Spenden einsammeln oder so, auch ein equivalentes filmisches Interesse gab. Exploitation-Filmen hängt ja zumindest in den 1970ern der Ruf an, mitunter subversiv zu sein und zum Beispiel an der amerikanischen Gesellschaftsordnung zu zweifeln. Und die Filme von dieser Ormond-Familie, die wirken auch erstmal so, als wolle man wieder etwas einholen und stabilisieren, was aus den Fugen geraten ist. Aber gleichzeitig ist das ja kein Standard-Christentum, was die da praktizieren. Irgendwie wollen sie schon etwas zu einem Mainstream machen, was eigentlich nur in gewissen Teilen des Landes gang und gäbe ist.

J: Definitiv, deshalb hauen die auch so explizit auf den anderen christlichen Konfessionen herum. Ein extremes Konkurrenzdenken.

A: Stimmt, der Buddhismus wird stark in die Pfanne gehauen. Und auch der Katholizismus,
wegen des Purgatoriums?

J: Genau, und dann die Geschichten über die Israeliten.

A: Ja, Antisemitismus, Antijudaismus auf jeden Fall.

J: Das ist ein ganz radikaler Exklusivismus. Das Christentum bewegt sich ja zwischen den beiden Polen, Heilsuniversalismus und Heilsexklusivismus. Das ist die super-exklusive Seite. Man muss nicht nur Christ sein, sondern Christ einer ganz bestimmten Gruppe, die einen ganz bestimmten Ritus der Übergabe des Lebens an Jesus hat. Das ist der einzige Weg in den Himmel. Deshalb sehen sie es als ihre Aufgabe, so viele Menschen wie möglich zu überzeugen. Deshalb auch die Widmung am Anfang, für die „Seelen-Retter“.

A: „Seelen-Retter“ sind einfach diejenigen, die Leute bequatschen, dieser Kirche beizutreten?

J: Ja.

A: Das ist ja auch durchaus in Kontinuität mit neueren Sachen wie God‘s Not Dead (Cronk, USA 2014), obwohl der eher wie so ein moderner Indie-Film aussieht. Aber trotzdem sind darin ganz ähnliche Szenen wie in The Grim Reaper, auch mit diesem Autounfall am Ende.

J: Und der Motorradunfall bei The Burning Hell (Ormond, USA 1974)

A: Ja, da wird die Gelegenheit nicht genutzt, sich zu verabschieden, sondern eigentlich nur um schnell noch die Seele zu retten, wie es der Bruder bei The Grim Reaper probiert.

J: Bei God’s Not Dead funktioniert das dann auch. Hier nicht. Aber es ist auch eine theologische These, die da drinsteckt, in Abgrenzung zu anderen Religionen, die eher auf Werkgerechtigkeit setzen. In solchen Religionen geht es darum, möglichst gute Taten zu vollbringen oder Tugenden auszubilden. Danach entscheidet sich am Ende das Schicksal der Seele. Das ist aber nichts, was sich quasi im letzten Atemzug noch wenden lässt. Da geht es um eine Art Gesamtbilanz des Lebens. Hier hingegen geht es allein um den Bekehrungsmoment. Darin liegt etwas ziemlich Provozierendes: Du kannst der böseste Mensch sein, viele Menschen ermordet und misshandelt haben, wenn du dich im letzten Moment bekehrst, wirst du trotzdem gerettet. Und wenn du der beste Mensch warst und dein ganzes Leben anderen geholfen hast, aber du hast dieses Übergabegebet nicht gesprochen, dann wirst du trotzdem verdammt.

A: Das ist irgendwie sehr bürokratisch. Wenn du das „X“ nicht an der richtigen Stelle gemacht hast, dann bist du auch am Arsch.

J: Das denke ich auch immer, wenn ich das höre.

A: In einem anderen christlichen Kontext könnte man denken, dass da noch eine andere Narrative möglich ist. Weil der Sohn, der beim Autorennen stirbt und in die Hölle kommt, ja seinen ganzen Glauben nur an seinem Vater festmacht: „Wenn der nicht glaubt, glaube ich auch nicht.“ Das sagt er sogar noch, als er im Sterben liegt.

J: Ja, genau, daran scheitert seine Rettung. Eine bizarre Szene.

A: Das ist total irre. Trotzdem dachte ich, da hätte sich noch eine Narrative anschließen können, dass der Vater – was ja dann auch passiert – sich dieser Kirche anschließt und dadurch der Sohn auch gerettet wird. Aber das geht nicht.

J: Nein, das geht nicht, weil die Hölle hier als etwas absolut Endgültiges gilt. Interessant ist in dieser Hinsicht auch die Mutter. Sie wird als eine Art “Anti-Maria” gezeichnet. Im Katholizismus gibt es ja auch die Lehre, dass ganz viele Menschen verdammt und nur wenige, die zur katholischen Kirche gehören, gerettet werden. Und dann gibt es Marienliegenden, in denen Maria im Himmel sehr traurig ist und fast die ganze Zeit klagt und weint, weil sie das überhaupt nicht akzeptieren kann und will, dass so viele Menschen einfach verworfen werden, weil sie nicht dieser Kirche angehört oder irgendwelche Sünden nicht gebeichtet haben. Und hier verhält sich die Mutter anfangs ja auch so. Doch am Ende dreht sich das total. Sie ist glücklich mit ihrem jüngeren Sohn und dem bekehrten Mann. Frankie ist einfach vergessen.

A: Stimmt, es gibt mehrere Pfade in dem Film, wo man denkt, dass eine Versöhnung oder sogar Rettung für Frankie noch ausstehen könnte. Die Mutter trifft ja auch seinen Geist, der ihr erzählt, wie heiß und furchtbar es in der Hölle ist. Und dann gibt es diesen Moment, wo die Familie überlegt, ob sie nicht so einen okkultistischen Dienst in Anspruch nehmen sollen, so eine Séance, um mit dem toten Sohn zu sprechen. Das hätte ja ein Ausweg für Frankie sein können, um posthum doch noch Jesus als seinen Retter anzuerkennen. Doch das ist nach dieser Theologie wirklich nicht möglich. Aber es ist der einzige Spannungsaufbau in diesem Film. Denn das Problem wird schon ganz am Anfang umrissen, er liegt schon im Sarg. Und man erfährt sofort, wie er gestorben ist. Also fragt man sich nur noch: “Gibt es doch noch einen Weg in den Himmel?”

J: Aber die Leute, die das damals in den Gemeinden gesehen haben, die wussten ja schon, dass es keinen Weg gibt. Purgatorium, Wiedergeburt – das wird alles verdammt. Und dass der Sohn Gnade über den Vater erfährt, ist in dieser sehr individualistischen Form des Christentums auch ausgeschlossen.

A: Im Grunde wirkt das so, als müssten sie nochmal verifizieren, dass es wirklich keinen Ausweg gibt. Warum machen sie diesen Film narrativ so? Irgendwie hat man doch die ganze Zeit das Gefühl: „Boah, diese anderen Religionen sind viel attraktiver, weil sie einfach viel mehr Möglichkeiten, viel mehr Spielraum bieten”. Warum soll man sich einer Religion anschließen, die so ein geschlossenes, merkwürdiges Weltbild hat, wo es zu solchen Konstellationen kommt?

J: Ich glaube nicht, dass der Film irgendjemanden überzeugen kann, der Katholik oder Buddhist ist. Das ist eher ein Film, um sich nochmal selbst darin zu bestärken, dass man der Beste ist und Recht hat, oder so.

A: Ja, wir sehen diesen Film wahrscheinlich vollkommen anders als er eigentlich intendiert ist. Für mich wird er immer dann lebendig, wenn die Episoden kommen, die in der Hölle spielen oder wenn die kleinen Kostümdramen eingewoben werden. Und immer, wenn das eintritt, was eigentlich als das Positive verkauft wird, wird das ganz furchtbar für mich. Das erschöpft sich ja komplett darin, dass ohne Ende Zeilen aus der Bibel mit Bibelangabe zitiert werden.

J: Das Komische ist ja, dass das sogar in die Narrative eingewoben wird. Der Vater hat ja diesen Tagtraum vom Jüngsten Gericht und meint dann: „Es ist so real. Ich muss mich jetzt bekehren“. Was ihn überzeugt, ist gar nicht das belehrende Gerede in der Kirche, sondern diese Fantasie, die für ihn realer ist als alles andere. Ist das eine sinnvolle Art, sich der Welt zu näheren?

A: Ja, er vergräbt sich in so eine Fantasie, die vielleicht durch diese Predigen angestachelt wird, und das überzeugt ihn. Das ist vielleicht auch so eine Taktik des missionarischen Bibelfilms.

J: Ja, vielleicht.

A: Dieser Film hält sich nicht an das Predigen und Zitieren, ist also keine gefilmt Predigt, die man herumreichen kann. The Grim Reaper ist irgendwo schon filmisch und hat diese Schockwirkung, die durch Horror-Szenen erzeugt wird, wie diese Macbeth-reife Hexe.

J: Diese arme Prophetin! Die war in ihrer Gesellschaft bestimmt eine ganz anerkannte Persönlichkeit, und hier wird sie wie so eine komische Hänsel-und-Gretel-Hexe gezeigt, die sich in einer finsteren Höhle versteckt.

A: Sowieso werden hier Frauenfiguren aus dem Alten Testament in ihrer schlechtmöglichsten Interpretation gezeigt.

J: Ja, Jezebel und Deliah sind Teil dieser Kostümdramen.

A: Da musste ich an Wakefiled Pooles Bible! (USA 1974) denken, wo diese Frauen in so einem positiven Licht gezeigt werden. Und hier dieses total Klassische, dass man Frauen als ein Negativbeispiel nimmt und sich daran abarbeitet. Bei dieser Prophetin ist das natürlich am schlimmsten, die wirkt echt so wie eine Hexe aus einem Kindermärchen.

J: Was überhaupt nicht in den historischen Kontext passt, sondern an Vorurteile aus der Zeit der Hexenverfolgung anlehnt. Das ist schon merkwürdig, dass dieser Film einerseits auf ein ganz wörtliches Verständnis der Bibel beharrt, sich aber für den historischen Kontext der Bibeltexte überhaupt nicht interessiert. Es wird ja so getan, als ob die Prophetin etwas Verbotenes täte und sich deshalb in der Höhle verstecken müsste. Aber in der paganen Gesellschaft, in der diese Szene spielt, war es überhaupt nicht ungewöhnlich, geschweige denn verboten, den Rat von Orakeln und Prophet*innen in Anspruch zu nehmen.  

A: Das stimmt, aber trotz all dieser Elemente haben die Filme irgendwas, auch über die Vermischung von Predigt und Exploitation-Ästhetik hinaus. The Grim Reaper ist wie so ein Ticket in eine andere Welt. Das ist in heutigen Filmen wie God’s Not Dead ganz anders, die versuchen immer so zu tun, als gäbe es äußerlich und ästhetisch eigentlich keinen Unterschied: „Wir sind eigentlich genauso wie ihr, aber ihr denkt und glaubt falsch“.

J: Genau, die Botschaft ist: „Ihr habt einfach das Problem, dass ihr in die Hölle kommt. Wir kommen in den Himmel. Aber ansonsten ist unser Lifestyle – was man so macht, wie man aussieht und welche Stellung man in der Gesellschaft hat – eigentlich mehr oder weniger gleich.“ Aber die Leute in The Grim Reaper, das ist wirklich wie so eine Parallelgesellschaft.

A: Andererseits wird in neuen Filmen wie God’s Not Dead eine viel stärkere Wir-Gegen-Die-Haltung sichtbar. Da treten ja die “bösen Linken” auf, die den Christen ihren Glauben mehr oder weniger verbieten wollen. Bei The Grim Reaper hingegen entsteht der Unglaube aus dem Inneren heraus. Keinem anderen wird die Schuld an Frankies Schicksal zugeschrieben.

J: Das stimmt. Man sieht an der Entwicklung dieser religiösen Filme richtig, wie die gesellschaftlichen Konflikte in den USA eskaliert sind. Hier sind Katholiken, Buddhisten und andere Nicht-Evangelikale einfach in einem “bedauerlichen Irrtum”, heute wird immer eine Feindschaft inszeniert, bei der es um alles geht. Dies geht meist überein mit der seltsamen Fantasie, als Christen in den USA “verfolgt” zu sein, obwohl man die Mehrheit stellt. Die neuen Filme sind daher auch kaum noch erträglich, während man in The Grim Reaper schon einen filmischen Wert sehen kann, auch wenn man die theologischen Vorstellungen nicht teilt.

A: Das ist vielleicht auch einfach der Unterschied zwischen Exploitation – wo es ja auch immer um die wissende Lust an Übertreibung und die Überschreitung gesellschaftlicher Tabus geht – und einem kalkulierten Propagandafilm für die eigene (Gegen-)Gesellschaft.

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