
Darum geht’s: Der korrupte Polizist Joseph Thorne (Craig Sheffer) ermittelt in einem okkulten Mord- und Entführungsfall. Je tiefer er ins Geschehen vordringt, desto stärker wird er von finsteren Träumen und Halluzinationen heimgesucht. Hängt dies mit der mysteriösen Puzzlebox zusammen, die er am ersten Tatort gefunden hat? Oder holt ihn einfach sein narzisstischer und selbstzerstörerischer Lebensstil ein?
Achtung: Schwere Spoiler!
A: Die ikonische Puzzle-Box – das ‘Lament Configuration’ aus Hellbound Heart (Barker, UK 1986) – war nie programmatischer als hier: Aus Grundelementen der Novelle und einem unabhängigen Drehbuch wird einfach ein Hellraiser-Film gebastelt.
J: Stimmt, man merkt, dass das ursprünglich ein typischer Thriller oder Krimi war und diese Hellraiser-Geschichte drübergelegt wurde. Es sagt auch viel über das heutige Krimi- und Thriller-Genre aus, dass der Ermittler Joseph Thorne am Ende einfach selber das Opfer ist. Viele Thriller gehen ja ohnehin in diese Richtung, dass das Verbrechen und der Täter immer näher an den Ermittler heranrücken und die Ermittlung zu einer Art Selbstfindungs-Reise wird. Hier wird das konsequent zu Ende gedacht: Der Detektiv ist letztlich sowohl das Opfer als auch der Mörder.
A: Das gibt es bei Okkult-Thrillern tatsächlich oft. Da ist ja meistens der Twist, dass das, was man sucht oder als eine äußere Bedrohung wahrnimmt, eigentlich etwas ganz Familiäres ist, was einem nahesteht. Und nicht selten ist man es einfach selbst.
J: Und die hier gezeigte Höllenvision, die findest du auch überall, von der hohen Theologie bis hin zu dem billigsten B-Movie. Ich meine, dass die Hölle letztlich einfach ein In-Sich-Selbst-Eingeschlossen-Sein ist. In der ursprünglichen Novelle von Clive Barker ist das aber gar nicht so.
A: Ja, da bleibt vielmehr die Möglichkeit bestehen , dass die Höllendimension eigentlich eher so eine Art polymorph perverser Himmel ist. So fangen der erste Film und die Novelle ja auch an: Es werden neue Formen von S&M als Lustquelle angezapft, die immer extremer werden.
J: Genau, der Protagonist sucht den ultimativen Lustkick und landet dann bei den Cenobites. Aber man hat das Gefühl, dass er dafür noch nicht bereit ist.
A: Die totale Lust, die dann von dieser anderen Dimension eingelöst wird, speist sich zwar aus dem Körperlichen, aber produziert auch immer wieder die Zerstörung des Körpers. Was ja im direkten Gegensatz zu der ‘Hölle’ steht, die in Hellraiser Inferno gezeigt wird, wo Leute einfach körperlich dafür bestraft werden, dass sie ihren körperlichen Lüsten gefolgt sind. Wohingegen im Original die „Qualen“ von den Cenobites eher als eine Art Belohnung angeboten werden, aber diese Belohnung können die wenigsten Leute als solche empfinden oder anerkennen.
J: Im Original sind die Cenobytes und die Hölle etwas ganz Anderes, etwas ganz Fremdes, das die Menschen erkunden. Und hier besteht die Qual gerade darin, dass es überhaupt nichts Anderes mehr gibt. Alle Menschen und Cenobites, die Joseph Thorne im Laufe des Filmes begegnen, sind nur Schatten seiner eigenen Seele. Es gibt kein Außen. Deshalb ist Versöhnung oder Vergebung auch nicht möglich.
A: Ja, aber es ist auch keine filmische Version von so einer Art Sartre-Hölle, wo Leute in ihrer eigenen Privathölle eingeschlossen sind. So wie in The Devil in Miss Jones (Damiano, USA 1974), wo die Protagonistin für ihren Selbstmord und die sich anschließenden fleischlichen Transgressionen in einer Zwischenwelt schließlich damit bestraft wird, dass sie auf Ewig erfolglos versucht zum Orgasmus zu kommen. Hellraiser Inferno hat dagegen eher einen moralisierenden Ton, der von außen kommt
J: Findest du?
A: Ja, Pinhead hält am Ende doch diese hochtrabende Rede, die doch sehr untypisch für die Hellraiser-Welt ist.
J: Stimmt, er hält so eine Art Moralpredigt: „Du bist dafür verantwortlich. Du hast diese ganzen schlechten Dinge getan. Du bist fremdgegangen. Du hast deine Mutter vernachlässigt. Deine Position ausgenutzt.“ Es geht also gar nicht um ein richtig düsteres, quasi dämonisch Böses, sondern eher um Alltagsverfehlungen.
A: Sehr merkwürdige Anschuldigungen von einem transgressiven S&M-Dämon. Das klingt für mich eher nach der Sonntagsschule. Zumindest gibt es doch die christliche Vorstellung, dass es gar nicht auf den Grad der Verfehlung ankommt, sondern einfach nur allgemein darauf, dass man überhaupt Verfehlungen begeht. Das reicht dann schon, um die maximale Strafe zu verdienen.
J: Trotzdem würde ich der Interpretation widersprechen, dass Pinhead hier eine christliche Theologie bemüht. Er verlacht ja alles, was das Christliche ausmacht. In seinen Augen ist es total dumm und naiv von den Menschen, zu glauben, es könnte Vergebung oder Versöhnung geben. Das ist in dieser Welt überhaupt nicht vorgesehen.
A: Aber würde der Teufel den Leuten in der Hölle nicht genau so etwas erzählen, wenn sie ankommen?
J: In seiner ursprünglichen Version als “Ankläger” vielleicht, aber nicht als der absolut Böse, als der er heute meist bekannt ist. Pinhead hingegen ist ja nicht selber böse in dem Sinne, wie der Teufel böse ist. Er hat ja eine feste Vorstellung von Gerechtigkeit: „Ein Sohn schuldet seiner Mutter, dass er sich um sie kümmert. Ein Ehemann schuldet einer Ehefrau Treue.“ Was er nicht hat, ist eine Idee von Vergebung und Versöhnung. Das, was Gott in der Bibel verspricht, was auch besonders Jesus verspricht, ist ja gerade, dass die Schöpfung am Ende geheilt wird, dass Vergebung und Versöhnung möglich werden. Pinhead hingegen ist der perfekte Rachegott. Unrecht muss bestraft werden. Weiter denkt er nicht.
A: Trotzdem präsentiert Pinhead das Ganze als die Hölle. Er sagt wortwörtlich: „Welcome to hell“.
J: Aber es ist eine Hölle ohne den Gegenpol des Himmels. Das ist nur die Hälfte.
A: Das ist richtig. Aber es gibt ja auch etwas krassere Ausformungen von christlichen Glaubensgemeinschaften, die der Auffassung sind, dass es nur eine ganz kleine, außerwählte Schar an Menschen gibt, die die Vergebung erlangen können. Und die anderen landen alle in der Hölle.
J: Die Prädestinationslehre, ja. Aber dieser Vorstellung nach hat dann Gut-Sein und Böse-Sein gar keinen Einfluss auf das eigene Schicksal, beziehungsweise Gott selbst verhärtet dann das Herz der Menschen, die er in die Hölle schicken will und bringt sie zu bösen Taten. Da ist Gott nicht gerecht, sondern nur mächtig. Hier hingegen herrscht ja schon die klassische Vorstellung, dass selbstverschuldete, böse Taten in die Hölle führen.
A: Es wäre ja auch vorstellbar, dass es in dieser Welt keinen Gott gibt, sondern tatsächlich nur diesen Ort, wo gerichtet wird. Das könnte erklären, warum Pinhead Sachen übernimmt, die eigentlich ein Gott übernehmen würde, also das Richten und Predigen. Andere essenzielle Gott-Eigenschaften lässt er aber vermissen, wie Gnade und so weiter.
J: Ja, Pinhead passt besser in eine polytheistische Welt. Im griechischen Polytheismus hat man ja auch einige Götter, die einen Aspekt im Extrem repräsentieren.
A: Man würde aber auch meinen, die meisten dieser Mechanismen greifen erst, wenn man stirbt. Dann wird über Himmel und Hölle entschieden. Aber in diesem Fall geschieht das Ganze über das Interesse am Spiel. Dadurch öffnet er ja den Würfel. Und dann kommt Pinhead und entdeckt in ihm einen Sünder. Scheinbar kommen größtenteils Sünder an diesen Würfel. Das wird ja impliziert, dass nur die Schlechtesten der Schlechten überhaupt damit in Kontakt kommen. Es ist klar, dass es vor allem um Läuterung und Bestrafung geht. Das hat in dieser fragmentierten Erzählform schon fast etwas von Dickens’ A Christmas Carol (UK 1843).
J: Ja, nur dass die Weihnachtsgeschichte auf Versöhnung und Verbesserung hinauswill. Hier hingegen lösen die Flashbacks vielleicht ähnliche Gefühle aus, aber das nutzt einfach gar nichts, weil er ja nicht mehr in Kontakt zu den echten Menschen treten kann.
A: Genau, die Zukunft steht schon fest. Aber die narrative Funktion ist ähnlich, also, dass du diesen Geist oder Dämon hast, der dir die ganzen Verfehlungen aufzeigt, und zwar so, dass du sie auch physisch spürst. Das ist bei Dickens ja auch so, dass Scrooge wirklich physisch ‘hingebeamt’ wird an diese Orte in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und sich face-to-face damit beschäftigen muss.
J: Ja, stimmt.
A: In dieser Konfrontation mit den Geistern liegt ja auch irgendwie eine masochistische Lust. Bei Hellraiser (Barker, UK 1987) hat man ursprünglich auch diese Idee einer devianten Form von Lust, weil diejenigen, die anvisiert werden, normalerweise Menschen sind, die Lust und Schmerz verbinden können. Im ersten Film wird mit Frank (Sean Chapman) ja so ein Aleister Crowley-artiger Okkultist gezeigt, der auch ein ausgeprägtes kriminelles Element hat. Aber letztlich ist alles darin eingebettet, ein größeres Stadium der Lust zu erreichen. Die Cenobytes reden ja auch dauernd von „pleasure“.
J: Genau, für sie geht es um Lust, nicht um Schmerz oder Bestrafung.
A: Aber in Inferno ist das fast komplett weg. Kein Mensch redet mehr von „pleasure“.
J: Es gibt nur eine einzige Szene, ganz am Anfang. Da, wo er die Cenobytes das erste Mal trifft.
A: Ganz am Anfang, ja, das hat mich noch an den alten Film erinnert. Da greifen die Cenobites ihm unter die Bauchdecke, und es sieht so aus, als würde er das genießen. Doch innerhalb des Drehbuchs ist es nur dafür da, der vorherigen Sexszene einen morbiden Twist zu geben. Er gleitet dann aber in etwas völlig anderes rein, was mit Lust gar nichts mehr zu tun hat.
J: Lust ist auch für die anderen Charaktere kein Thema. Alle sind sehr zurückhaltend, was das Sinnliche angeht. Es gibt natürlich die Szene mit der Sexarbeiterin, aber die ist nur dafür da zu zeigen, was für ein schlechter Ehemann er ist.
A: Es wird zwar gesagt, dass Joseph Thorne ein Hedonist ist, aber er ist völlig anders hedonistisch als Frank. Frank kann sich auf andere Personen einlassen, er hat dieses leidenschaftliche Verhältnis mit Julia. Sicher, er manipuliert sie und bringt sie am Ende um. Er ist definitiv kein guter Mensch. Aber die Ausgangslage ist eine andere. Bei Joseph Thorne scheint es eher um Selbstbetäubung als um Lust zu gehen. Die Beziehung zu seiner Frau und Tochter ist komplett kalt. In der Höllendimension lässt der Killer, sein Alter Ego, die beiden dann ja auch wirklich erfrieren.
J: Er lebt so ein rein kapitalistisch-ökonomisches Leben, nur dass er eben, wo er kann, Regeln zu seinen Gunsten bricht. Interessant ist ja auch, dass sein spirituelles Zentrum sein inneres Kind ist. Ein Kind folgt dem Lustprinzip. Paradoxerweise wird er somit von Pinhead sowohl dafür bestraft, körperlichen Lüsten zu folgen wie auch dafür, dass eigentliche Lustprinzip, die Leidenschaft, zerstört zu haben. Was ihn antreibt, ist mehr der Todestrieb als das Lustprinzip.
A: Absolut! Und das ist ja auch ein riesiger Scheidepunkt innerhalb der Reihe: Im ersten Film wird die Suche nach der ultimativen Lust allein deshalb bestraft, weil es den Menschen damit nicht ernst genug ist. Die obsessive Beschäftigung mit dem Sinnlichen, was ja mit dem Körperlichen, mit dem Fleischlichen zusammenhängt, ist aber die ganze Welt der Cenobites. Sie suchen nach einem glühenden und endgültigen Commitment, werden darin aber oft enttäuscht. Es ist Ihnen todernst mit dem Würfel als Schlüssel zu einer besseren Welt, aber die Anwärter:innen interpretieren ihn als Aufforderung zum Spiel. Man könnte auch sagen, sie haben eine gesündere, aber eben auch erdgebundene Vorstellung vom Austesten ihrer Grenzen. Für die Cenobites ist es jedoch eine rigide Glaubenspraxis. In Inferno gibt es nun aber im Grunde gar keine Religion und keine Spritualität mehr. Pinhead steht zwar noch irgendwie für eine allgemeingültige Vorstellung von Moral, aber die hat kein nachvollziehbares Fundament. Und der Lust scheint er sogar komplett abgeschworen zu haben.
J: Ich würde auch sagen, dass ein reines Streben nach immer mehr Lust nicht zum glücklichen Leben führt. Aber es gibt in der Welt von Inferno keine Alternative. Pinhead bezieht sich am Ende ja auf Paulus, wenn er sagt: „Dein Fleisch hat deinen Geist getötet“. Denn Paulus fragt ja sinngemäß auch: „Seid ihr Menschen des Fleisches oder Menschen des Geistes?“ Doch welchen Sinn macht es in einer Welt, in der es keinen Gott gibt, Menschen des Geistes zu sein? Von der Verdammung eines lustvollen Lebens bleibt nur ein leerer Moralismus, wenn eine Alternative nicht mal erträumt oder vorgestellt werden kann.
A: Das Interessante an der Welt von Clive Barker ist hingegen eher, dass alle total von dem Fleischlichen besessen sind und darüber die Erweiterung der menschlichen Sinne anstreben – über Schmerzen, extremen Körpermodifikationen und andere Mittel -, bis zu dem Punkt, wo die Sinne sich nicht mehr erweitern lassen und man den ganzen Körper zerstört. Und das wiederholt sich immer wieder.
J: Ja, und es hat auch wirklich eine spirituelle Komponente. Das gibt es in religiösen Ritualen ja auch, dass man den Schmerz oder sogar die Zerstörung des Körpers sucht, um eine transzendente Erfahrung zu machen.
A: Genau, S&M hat ja oft auch etwas Transzendentes. Und so hätte ich dieses Universum bei Barker auch verstanden. Also, dass diese Zerstörung des Körperlichen so eine Art von Befreiung ist. Und im ersten Film ist Frank ja auch deshalb ein Bösewicht, der sich als nicht würdig erweist, weil er das Körperliche unbedingt zurückwill. Deswegen setzt er sich auf dem Dachboden aus purer Willenskraft wieder selbst zusammen, und tötet Menschen, um ihr Fleisch zu absorbieren.
J: Genau, im ursprünglichen Hellraiser steht die Lust gar nicht im Gegenteil zum Transzendenten, sondern ist ein Weg, über das Körperliche hin zum Transzendenten zu kommen.
A: Und bei Inferno ist der Protagonist jetzt plötzlich total „vanilla‘“. Er ist extrem weit weg von einem ‘Pleasure-Seeker’, der sich Piercings stechen lässt oder sonst irgendwas sucht, was die Sinne ganz anders anspricht. Wenn man alle Fortsetzungen als eine Gesamterzählung sehen würde – was völlig wahnsinnig ist – wäre man mit Hellraiser Inferno plötzlich an einem Punkt angelangt, wo das Aussehen der Cenobites und das, was sie in diesem Keller machen, eigentlich spöttisch ist. Die Nägel im Kopf, die ganzen Körperveränderungen sollen hier nur das Fleisch verspotten und fleischliche Gelüste lächerlich machen, oder aufzeigen, wie schlimm die sind.
J: Wir sind also beim Gegenteil von dem angelangt, was ursprünglich gemeint war.
A: Im Original sind sind die Cenobites einfach daurch mehr Hölle als Himmel, dass sie die Erkenntnis, die Transzendenz, über das Fleischliche vollziehen. Im Himmel würde man vermutlich sagen, dass man sich vom Körper ganz anders lösen muss, und zwar nur über das Ideelle.
J: Aber trotzdem wollen auch die Cenoites und die Menschen in der Hölle zur Transzendenz. Und das lässt diese extreme Differenz zwischen Himmel und Hölle einbrechen. Die Idee scheint zu sein, dass solche Zustände ineinander übergehen können. Am Ende sind die Menschen des Geistes und die Menschen des Fleisches gar nicht so verschieden.